SS 2020 Stättebau
Timon Dönz, Kevin Hüppi.
Vor rund 60 Jahren beschloss die Schweiz, den 27. Kanton als bundesunmittelbares Gebiet zu gründen. Dieser besteht aus dem Nationalstrassennetz und wird vom Bund gebaut, betrieben und unterhalten.
Als „ein Bauwerk von gewaltigem Ausmass“, wie es einst Altbundesrat Philipp Etter nannte, legt sich der 27. Kanton über alle Landesteile der Schweiz. Durch seine vielarmige Form weist seine Abwicklung eine maximale Reibungsfläche auf.
Durch die Überlagerung von System und Kontext entstehen Schnittstellen, an denen die Beziehung zwischen Autobahn und Umland neu verhandelt werden müssen. Diese Schnittstellen nennt man im 27. Kanton „Stätten“. Sie entstehen entlang des gesamten Hoheitsgebiets. Die Architektur dieser Stätten thematisiert unterschiedliche Massstäbe, Geschwindigkeiten und Ausrichtungen im selben Raum. Sie nutzt das darin enthaltene Konfliktpotenzial, um zwischen dem Umland und dem 27. Kanton zu vermitteln.
Irgendwo zwischen Hier und Dort
Stundenlang rast die Umgebung verschwommen an uns vorbei. Wir erfreuen uns an unserer vermeintlichen Freiheit, sind mobil. Auf dem Asphaltband jedoch reiht sich Wagen an Wagen. Nach strengen Regeln geht es geordnet voran. Wir sind Teil eines grossen Ganzen, der Autobahn. Orte, die wir passieren, werden stellvertretend durch grosse Anzeigetafeln an den Ausfahrten wahrgenommen.
Den Blick durch die Windschutzscheibe auf das unendliche Grau vor uns gerichtet, entdecken wir am Strassenrand ein Piktogramm mit Zapfsäule und Essbesteck, welches uns eine Raststätte ankündigt.
Als Durchreisende halten wir kurz am Rande dieses unaufhörlich fliessenden Verkehrsstroms Inne und bewegen uns für ein paar Minuten im Schritttempo. Dieser Ort scheint proportional zum Interesse, das ihm entgegengebracht wird, entworfen worden zu sein.
Erinnerungen an ihn verschwinden, sobald wir wieder in das Rauschen der Geschwindigkeit eintauchen.
Doch die Fragen nach der unverkennbaren Architektursprache dieser Räume und den darin verborgenen Qualitäten interessieren uns.
So kommt es, dass wir genau hier, am Rande des asphaltierten Hochgeschwindigkeitsbandes, einen architektonischen Wortschatz der Autobahn entdecken.
Die Geschichte des 27. Kantons und dessen Dialektik nimmt Fahrt auf.
Diese Erzählung behandelt den Bau des Nationalstrassennetzes und die Wiedererkennungsmerkmale seiner Architektur. Metaphorisch erzählen wir von unserer Reise auf der Suche nach der Architektursprache der Autobahn, welche wir während unserer Diplomarbeit durchlebt haben.
Inhaltlich porträtiert sie das Schweizer Nationalstrassennetz als Kosmos mit eigener Formensprache. Um eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Eigenheiten dieser Welt zu ermöglichen, haben wir uns zu Beginn unserer Recherchearbeit während mehreren Tagen ausschliesslich innerhalb und entlang der Begrenzungen der Autobahn bewegt. Die dabei gesammelten Eindrücke, gefundenen Eigenarten, angetroffenen Personen und deren Geschichten in Bezug auf die Autobahn, werden in diesem Werk verarbeitet.
Uns interessiert das Aufeinanderprallen eines Bauwerkes unvorstellbarer Grösse, eines in sich geschlossenen Systems, mit dem lokalen Kontext. Wir fragen nach der räumlichen Zugehörigkeit von Autobahnbauten und einer architektonischen Typologie, nach deren Formenkatalog ein architektonischer Wortschatz geformt werden kann.
Die auf unserer Reise durch den 27. Kanton besuchten Personen erläutern uns jeweils in einem Dreischritt ihren Blickwinkel auf die Autobahn.
Ihr Charakter steht allegorisch für den Themenreichtum der Autobahn, der weit über eine reine Verbindungsfunktion hinausreicht.
Sie vermitteln uns Wissen, welche zu Regeln des architektonischen Dialekts führt, durch die ein charakteristisches Erscheinungsbild entsteht. Zuletzt zeigen Fotografien aus unserer Reisedokumentation Momente der Autobahnarchitektur, die unsere Aufmerksamkeit erregt haben.
Dialektik eines Bauwerks
Zu Beginn unserer Reise durch den 27. Kanton stand die Frage nach der Identität vorgefundener Orte. Infrastruktur, Mobilität und Konsum schienen die Atmosphäre zu prägen. Das Gefühl, unterwegs bleiben zu müssen, hielt uns davon ab, Räume entlang der Autobahn tiefergehend zu erfahren. So schienen uns diese Orte ohne Identität und austauschbar zu sein.
Die Erinnerung an sie verschwamm, sobald wir wieder in den Rausch der Geschwindigkeit eintauchten.
Es sind Momente, in denen man sich nicht wie gewohnt oder vorgesehen verhält, die uns zu einem Hinterfragen dieser Orte und ihrer Atmosphäre bringen.
Im Stau bei offenem Fenster Vogelgezwitscher anstelle des dröhnenden Verkehrs zu hören, als Fussgänger auf einer Raststätte unterwegs zu sein und sich unabhängig von Markierungen bewegen zu können oder sich gar eine Raststätte als Ziel einer Wanderung zu setzen, lässt uns hinter der Fassade eines auf sein Funktionieren getrimmtes Systems eine neue Welt entdecken. Deren einzigartige Architektursprache gilt es zu erkennen und zu deuten.
Nachdem wir den 27. Kanton auf unserer Reise von verschiedensten Seiten belichtet haben, sind wir nun in der Lage, die Formensprache der Autobahn zu beschreiben. Wir sehen das Nationalstrassennetz als Hervorbringer eines neuen architektonischen Dialekts. Die Autobahn stellt einen Raum dar, dessen vorzufindendes Architekturvokabular sich ähnlich einem Lokalidiom verselbstständigt und eigene Begriffe hervorgebracht hat. Dieses Repertoire wird, unabhängig vom geografischen Standort, pauschal im ganzen Kanton angewandt.
Die Architektur des 27. Kantons ist autochthon und benötigt kein Referenzieren auf Bestehendes oder Kontextuelles. Die Autobahn selbst wird zum Ort.
Das neue Verständnis der Autobahn als Formenkatalog einer Architektursprache versuchen wir greifbar zu machen.In unserem Atelier verarbeiten wir das auf unserer Reise gesammelte Wissen mit Hilfe von Bildern, Text und Skizzen zu Formen.
Das nonlineare Monument des 27. Kantons entsteht.
Als Architekten sehen wir den 27. Kanton als grösstes zusammenhängendes Bauwerk, das jemals in der Schweiz errichtet wurde. Um ein Verständnis dieses niemals in seiner Gesamtheit erfahrbaren Bauwerks zu bilden, analysieren wir einzelne Bausteine, einzelne Situationen. Wir erfassen den architektonischen Ausdruck des 27. Kantons durch seine Einzelteile.
Durch das anschliessende Zusammenfügen dieser einzelnen Elemente können wir eine Sprache erkennen und erhalten eine Vorstellung des Gesamten.
Die Grammatik des Autobahndialekts behandelt grundsätzliche Thematiken wie Identitätsbildung durch Formgebung, Widersprüchlichkeit in der Art der Fügung, Mehrdeutigkeit im Massstab und Repetition von Standardisiertem.
Nach diesen Regeln lässt sich ein nonlineares Monument formen. Es stellt eine Abstraktion der Autobahnwelt dar und zeigt unsere assoziative Interpretation des Formenkatalogs.
Es manifestiert unser Verständnis der Architektursprache des 27. Kantons.
Project by: Timon Dönz, Kevin Hüppi
Studio Alex Lehnerer, ETH