SS 2024 Leonce und Lena, und ein Haus. Ein transdiszziplinärer Versuch.
Pia Pollak.
Diese Arbeit versucht sich an der architektonischen Interpretation eines Theaterstückes. Es wird erforscht, wie das Geschriebene in eine architektonische Form übersetzt werden kann. Wie sich die Wendungen des Stückes, die Charaktere, die Entwicklungen auf das Gebaute auswirken.
Als Text wird Georg Büchners Lustspiel Leonce und Lena verwendet, es dient als Inspiration, Stütze und Referenz.
Die Arbeit ist in zwei Teile gegliedert. Der Erste zeigt die atmosphärische Verflechtung zwischen Text und Entwurf; stellt räumliche Situationen ausgewählten Textpassagen gegenüber und führt so durch das Projekt und die Geschichte. Der zweite Teil behandelt eine analytische Darstellung des architektonischen Entwurfs und zeigt die Überlegungen und konkreten Interpretationen.
Es gibt keine vorgeschriebene Reihenfolge der zwei Teile, das Projekt kann für sich allein oder in Verbindung mit dem Text gelesen werden.
Die architektonische Interpretation
Diese Arbeit beschäftigt sich im weitesten Sinne mit dem Austausch zwischen
Architektur und Literatur. Oft ist zu beobachten, wie Architektur literarische Werke beeinflusst - als Inspirationsgeber dient und als Stimmungsvermittler den Rahmen der eigentlichen Handlungen absteckt. Städte, Gebäude und Räume dienten und dienen nach wie vor als Inspirationsquelle neuer Ideen und Geschichten; ganze Welten werden erdacht, oftmals spielen detaillierte Beschreibungen der gebauten Umwelt eine tragende Rolle in der Inszenierung der Geschichten.
So schreibt der italienische Schriftsteller Italo Calvino beispielsweise in Invisible Cities über Marco Polos Reiseberichte zu zahlreichen, unbekannten Städten, die er detailgetreu schildernd an Kublai Khan weitergibt. Erst gegen Ende wird klar, dass die beschriebenen Städte allesamt von Calvinos Heimatstadt Venedig inspiriert sind und jede imaginäre Geschichte eine Facette der Lagunenstadt widerspiegelt. Calvinos Buch wird von der Verknüpfung zwischen Literatur und Architektur bereichert und inspiriert.
Aber was, wenn sich nicht die Literatur von der Architektur ableitet, sondern die Architektur sich Literatur als Vorlage nimmt?
Mit dieser Fragestellung beschäftigt sich die folgende Arbeit. Der Hauptfokus liegt dabei auf der architektonischen Interpretation eines literarischen Werkes - eines Theaterstückes. Auf den ersten Blick gibt es nicht viele Überschneidungspunkte zwischen Architektur und Theater.
Während Theater sich ständig neu erfinden kann; eine Disziplin ist, die keine tragende, gesellschaftliche Rolle inne hat, dadurch aber auf Missstände aufmerksam machen und sich kritisch äußern kann, ist die Architektur - im konventionellen Sinne - immer an einen strengen Rahmen des Möglichen gebunden. Technische und rechtliche Vorgaben müssen eingehalten werden. Um bauen zu können, muss das Budget eingehalten und das Raumprogramm berücksichtigt werden.
Auf den zweiten Blick lassen sich aber auch Gemeinsamkeiten erkennen. So haben sowohl das Theaterstück und Architektur eine unausweichliche Abhängigkeit vom Raum. Das Umfeld, in dem ein Stück aufgeführt wird, kann maßgeblich darüber entscheiden, wie eine Inszenierung wahrgenommen wird. Und auch Architektur besitzt oft einen performativen Aspekt.
Denn Theatralik spielt in der Architektur eine große Rolle. Von der Inszenierung der Wegeführung durch ein Gebäude, dem repräsentativen Charakter einer staatlichen Institution, bis hin zu den Blickbeziehungen eines öffentlichen Platzes; wir geben architektonischen Elementen, Räumen, und Sichten eine Bedeutung, die über die reine Materialität und Tragfähigkeit hinausgeht.
Ist eine Stütze rund oder eckig? Wirkt ein Raum offen oder geschlossen? – alles um uns kommuniziert; wirkt auf uns ein.
„KÖNIG PETER. Die Substanz ist das an sich, das bin ich.“
„ZWEITER KAMMERDIENER. Eure Majestät wollten sich an etwas erinnern, als sie diesen Knopf in Ihr Taschentuch zu knüpfen geruhten.“
„KÖNIG PETER. Was? Was? Die Menschen machen mich konfus, ich bin in der größten Verwirrung. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen.“
„DIENER. Eure Majestät, der Staatsrat ist versammelt.“
„KÖNIG PETER. Ja das ist‘s, das ist‘s. - Ich wollte mich an mein Volk erinnern!“
„LEONCE. Es krassiert ein entsetzlicher Müßiggang. - Müßiggang ist aller Laster Anfang. Was die Leute nicht alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile, und - und das ist der Humor davon - alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohne zu merken, warum, und mein Gott weiß was dazu.“
„LENA. Ja, jetzt. Da ist es. Ich dachte die ganze Zeit an nichts. Es ging so hin, und auf einmal richtet sich d e r Tag vor mir auf. Ich habe den Kranz im Haar - und die Glocken, die Glocken! Sieh, ich wollte, der Rasen wüchse so über mich und die Bienen summten über mir hin; sieh, jetzt bin ich eingekleidet und habe Rosmarin im Haar.“
„KÖNIG PETER. Meine Lieben und Getreuen, ich wollte Euch hiermit kund und zu wissen tun - denn entweder verheiratet sich mein Sohn, oder nicht [...]“
„KÖNIG PETER. [...] entweder, oder - Ihr versteht mich doch? Ein Drittes gibt es nicht.“
„PRÄSIDENT. Erlauben Eure Hoheit.- [...] Dass man der zu erwartenden Ankunft von Eurer Hoheit verlobter Braut, der durchlauchtigsten Prinzessin Lena von Pipi, auf morgen sich zu gewärtigen habe, davon lässt Ihro königliche Majestät Eure Hoheit benachrichtigen.
LEONCE. Wenn meine Braut mich erwartet, so werde ich ihr den Willen tun und sie auf mich warten lassen.“
„VALERIO. [...] Wir sind schon durch ein Duzend Fürstentümer, durch ein halbes Duzend Großherzogtümer und durch ein paar Königreiche gelaufen und das in der größten Übereilung in einem halben Tage und warum? Weil man König werden und eine schöne Prinzessin heiraten soll. Und sie leben noch in einer solchen Lage? Ich begreife Ihre Resignation nicht. Ich begreife nicht, dass Sie nicht Arsenik genommen, sich auf das Geländer eines Kirchturms gestellt haben und sich eine Kugel durch den Kopf gejagt haben um es ja nicht zu verfehlen.“
„VALERIO. Teufel! Da sind wir schon wieder auf der Grenze; das ist ein Land wie eine Zwiebel, nichts als Schalen, oder wie ineinandergesteckte Schachteln, in der größten sind nichts als Schachteln und in der kleinsten ist gar nichts.“
„VALERIO. Auf Ehre, Prinz, die Welt ist doch ein ungeheuer weitläufiges Gebäude.
LEONCE. Nicht doch! Nicht doch! Ich wage kaum die Hände auszustrecken, wie in einem Spiegelzimmer, aus Furcht überall anzustoßen, dass die schönen Figuren in Scherben auf dem Boden lägen und ich vor der kahlen, nackten Wand stünde.
VALERIO. Ich bin verloren.
LEONCE. Da wird niemand einen Verlust dabei haben als wer dich findet.“
„LENA. Wir haben alles wohl anders geträumt mit unsern Büchern hinter der Mauer unsers Gartens, zwischen unsern Myrten und Oleandern.“
„LENA. (zur Gouvernante) Meine Liebe, ist denn der Weg so lang?
LEONCE. O, jeder Weg ist lang! Das Picken der Totenuhr in unserer Brust ist langsam und jeder Tropfen Blut misst seine Zeit und unser Leben ist ein schleichend Fieber. Für müde Füße ist jeder Weg zu lang...“
„PETER. Also auch die Prinzessin ist verschwunden? Hat man noch keine Spur von unsrem geliebten Erbprinzen? Sind meine Befehle befolgt? Werden die Grenzen beobachtet?
ZEREMONIENMEISTER. Ja, Majestät. Die Aussicht von diesem Saal gestattet uns die strengste Aufsicht (Zu dem ersten Bedienten.) Was hast du gesehen?
[...]
DRITTER DIENER. Sie verzeihen, nichts.
ZEREMONIENMEISTER. Das ist sehr wenig. Und du?
VIERTER DIENER. Auch nichts.
ZEREMONIENMEISTER. Das ist noch weniger.“
„ERSTER BEDIENTE. Halt! Ich sehe was! Es ist etwas wie ein Vorsprung, wie eine Nase, das Übrige ist noch nicht über der Grenze; und dann seh ich noch einen Mann und dann noch zwei Personen entgegengesetzten Geschlechts.
ZEREMONIENMEISTER. In welcher Richtung?
ERSTER BEDIENTE. Sie kommen näher. Sie gehn auf das Schloss zu. Da sind sie.“
„LEONCE. Lena?
LENA. Leonce?
LEONCE. Ei Lena, ich glaube das war die Flucht in das Paradies. Ich bin betrogen.
LENA. Ich bin betrogen.
LEONCE. O Zufall!
LENA. O Vorsehung!“
„LEONCE. Nun Lena, siehst du jetzt, wie wir die Taschen voll haben, voll Puppen und Spielzeug? Was wollen wir damit anfangen, wollen wir ihnen Schnurrbärte machen und ihnen Säbel anhängen? [...]
Wollen wir ein Theater bauen?
(Lena lehnt sich an ihn und schüttelt den Kopf.)
Aber ich weiß besser was du willst, wir lassen alle Uhren zerschlagen, alle Kalender verbieten und zählen Stunden und Monden nur nach der Blumenuhr, nur nach Blüte und Frucht.“
Um es kurz zu fassen, kann man sagen, dass Büchners Werk Leonce und Lena ein Stück ist, bei dem einiges passiert und doch sehen der Anfang und das Ende fast identisch aus. Sogar die Charaktere gestehen sich zum Schluss ein: „Gehen Sie jetzt nach Hause, aber vergessen Sie Ihre Reden, Predigten und Verse nicht, denn morgen fangen wir in aller Ruhe und Gemütlichkeit den Spaß noch einmal von vorn an.“
Die einzelnen Figuren haben etwas Charakterloses, fast Puppenhaftes. Ihre Züge zeigen sich erst, wenn sie einander gegenübergestellt werden. Nur wenige der Figuren besitzen einen tatsächlichen Namen. Die Übrigen, werden durch ihre Rollenbezeichnung identifiziert, beispielsweise die Gouvernante.
Was aus der architektonischen Interpretation des Theaterstückes entsteht, ist nicht nur eine architektonische Interpretation eines literarischen Werkes, sondern auch schlichtweg ein Wohngebäude, welches ohne zusätzliche Ebenen den Anspruch hat, qualitativen Wohnraum zu schaffen. 12 Wohneinheiten in unterschiedlichen Ausformulierungen erstrecken sich über insgesamt 6 Stockwerken. Diese sind teils durch die Geschoße hindurch miteinander verstrickt, bilden also Maisonetten aus, oder nehmen ganze Ebene ein. Jeder Stock bietet differenzierte Wohnungen um eine möglichst große Nutzer*innengruppe anzusprechen. Die Wohneinheiten reichen von Studioappartements (44,80 m²) bis hin zu einer 8-Zimmer Wohnung (180 m²). Mit einer Raumhöhe von 2,80 Metern bieten hochwertigen Wohnraum. Vordergründliche werden die gemeinschaftlichen Raume inszeniert, ohne jedoch auf privaten Rückzugsraum zu verzichten. Ein hoher Anteil an Fensterfläche bildet die Basis für gut belichteten Wohnraum.
Die Haltung
Georg Büchner baut sein Stück auf der zerklüfteten sozialen und gebauten Umwelt seiner Zeit auf. Kleine Königreiche und Herzogtümer liegen verstreut in der Landschaft. Oft scheitert die Kommunikation unter ihnen.
Der Entwurf baut auf einem kleinen, leerstehenden und dem Abriss geweihten Bestandsgebäude im Bezirk Sankt Leonhard auf. Abgerückt von der ersten Reihe, stellt sich der Baukörper quer in die Lücke. Wie König Peter, der verloren in seiner eigenen, überholten Weltanschauung feststeckt, erinnert das Gebäude an Vergangenes.
Die repräsentative Fassade wendet sich der Straße zu. Status wird kommuniziert, Hierarchien werden aufgezeigt.
Das Alte, hier links unten, repräsentativ für König Peter und seinen absolutistischen Hof, zeigt sich in pompösen Schichten. Öffnungen werden durch vorspringende Elemente markiert, ehemalige Gauben werden zum keilförmigen Sonnenschutz, schwer über den kleinen Fenstern liegend.
Das eine Neue, wächst aus dem Bestand hervor, während das Alte aussortiert wird. Die Fassade wird umgedreht; aber die alten Mauern zeigen doch noch ihre Spuren.
Das andere Neue, repräsentativ für Lenas Charakter, dreht sich, hebt sich ab, öffnet sich den Betrachtern gegenüber. Die Fassade ist durchlässiger, leichter - aber in ihrem Ausdruck doch nicht ganz fremd.
Der Hof
Die private Fassade sieht nur das intime Umfeld des Hofes. Die äußersten Schichten fallen hier ab und die Fassade zeigt nun ungeschmückt ihre Struktur. Leonce will aus den ihm vorgegebenen Mustern ausbrechen und versucht, sich freizuschütteln.
Von unten nach oben entwickelt sich die Fassade von den Bestandswänden hin zu einer Adaption des Vorhandenen, bis hin zu einem Abschluss, der nun die Fassaden beider Baukörper miteinbezieht.
Prinzessin Lena
Zwischen rigiden Stahlbetonstützen öffnet sich eine transparente, leichte Struktur. Nahezu ungeschützt kann man bis ins Innere des Gebäudes einsehen. Nur Filter bewahren vor eindringenden Blicken und Sonnenstrahlen. Selbst ganz geschlossen bleibt eine leichte Transparenz.
Nordwestlich zur Straße hin schirmen die Filter unerwünschte Blicke ab, gespiegelt halten dieselben an der südöstlichen Fassade Sonnenstrahlen auf.
Während die Stützen einerseits schützen und tragen, sind sie auch Lenas Gefängnis.
König Peter und Prinz Leonce
Die Erweiterung des Bestandshauses baut auf den alten Mauern auf, doch der Übergang ist durch ein bewusstes Ab- und Zurechtrücken der Wände ablesbar.
Die Materialität wird übernommen, aber auf einen technisch aktuellen Stand gebracht. Die tragenden Innenwände des Bestandes ragen teilweise noch in die neuen Geschosse hinein, verschwinden dann aber allmählich und die Struktur wird nach und nach freier und unabhängiger.
Aufeinandertreffen
Zwei Strukturen treffen aufeinander. Das Leichte und das Schwere, das Offene und das Geschlossene. Zwei Systeme, die versuchen, sich einander anzunähern, sich zu berühren - zu verschränken, sich neu zu erfinden, Kompromisse einzugehen.
Die Natur schmiegt sich von allen Seiten an. Treppen führen wie Brücken ins Grüne.
Aufbrechen
Eine Flucht aus den alten Mauern treibt die Treppe in den Außenraum.
Aus dem Bestand hinaus ins Ungewisse, hin zu etwas Neuem.
Anschließen
Wo Alt auf Neu trifft, ist die Schnittstelle des Systemwechsels. Die Leichtbauwand trifft auf den Hochlochziegel, der auf dem alten Mauerwerk aufbaut.
Wie König Peter, der nie direkt zu seinem Sohn Leonce spricht, gibt es Hierarchien und Ordnungen, die bestimmen, wie der Übergang zwischen den architektonischen Elementen formuliert wird. Fugen und Anschlüsse entstehen und machen die innere Struktur der Bauteile sichtbar.
Müßiggang
Repräsentation, Öffentlichkeit und Privatheit stehen bei der Entwicklung der Wohnungen im Vordergrund. Die Wohneinheiten verfügen über großzügige Wohnräume. Rückzugs- und dienende Räume sind relativ klein dimensioniert, die Grundrisse weisen eine Abwesenheit an abgeschlossenen Abstellräumen auf. Damit wird die geschilderte Gesellschaftsstruktur des Überflusses, inszeniert, alles wird zur Schau gestellt.
Leonce und Lena, die als Prinz und Prinzessin ein essenzieller Teil dieses Systems sind, versuchen ihren eigenen Platz innerhalb und außerhalb dieser ihnen vorgegebenen Struktur zu finden.
Identität finden
Aus rund wird eckig, wird wieder rund, dann wieder eckig. Die Treppe bahnt sich ihren Weg durch die Stockwerke, die Wände weichen aus, biegen ab, schmiegen sich an.
Wie sieht eine Wohnung aus, die aus den alten Mauern ausgebrochen ist und doch nur diese als Referenz kennt, um sich neu zu erfinden?
Die Stockwerke erfinden sich um die Treppe herum. Schichtungen entstehen und lösen sich wieder auf, Wohnungen dehnen sich über Geschosse aus, verbinden sich und trennen sich wieder.
Einkehren
Der Weg durchquert das Gebäude, geht hinaus, wieder hinein, durchschneidet Räume - bis man schließlich wieder dort ankommt, wo man den vorgegebenen Weg des Bestandes zum ersten Mal verlassen hat. Viel hat sich in der Zwischenzeit getan, und nun hat man sich erneut an einem Ort eingefunden. Der hier gezeigte Grundriss des obersten Geschosses erinnert an den Anfang des Weges; der erste Stock ist eng verwandt mit dem Letzten. Die Endfigur der Wegeführung gleicht der Anfänglichen, so ähnelt der Weg hinab, dem Weg hinauf und der Weg hinauf, dem Weg hinab.
Viel ist geschehen, und doch steht man wieder an einem neuen Anfang.
Project by: Pia Pollak
Supervisor Alex Lehnerer