SS 2023 Die wachsenden Häuser von Wetzelsdorf
Beatrice Raith.

Über die Bauart langandauernder Werke – Bertold Brecht

Wie lange
Dauern die Werke?
So lange,
Als bis sie fertig sind.
Solange sie nämlich Mühe machen,
Verfallen sie nicht.

Einladend zur Mühe,
Belohnend die Beteiligung,
Ist ihr Wesen von Dauer, solange
sie einladen und belohnen.



Die nützlichen
Verlangen Menschen,
Die kunstvollen
Haben Platz für Kunst,
Die weisen
Verlangen Weisheit,
Die zur Vollständigkeit bestimmten
Weisen Lücken auf,
Die lang dauernden
Sind ständig am Einfallen,
Die wirklich gross geplanten
Sind unfertig.



Diese Arbeit thematisiert das Immer-Weiter-Bauen.
Nicht das systematische Planen, sondern das situative Entstehen interessieren. Der Prozess des Weiterbauens ist ein Hintereinander vieler solcher Situationen hin zu einem großen Ganzen. Als Prozess wird hier sowohl die Tätigkeit des Bauens an sich, als auch deren Produkt, das Haus, verstanden.
Ein Haus ist nie fertig, wäre dem so und alles hätte seinen endgültigen Platz, würde es nur mehr auf seinen Abbruch warten.

Wetzelsdorf und das Wachsen

Die Häuser in Wetzelsdorf sind kein starres Gefüge sondern passen sich den Gegebenheiten an. Wäre ein Haus nach seiner Fertigstellung perfekt und damit unveränderlich, müsste es mit dem Ende seiner Nutzung abgerissen werden. Indem ein Haus verändert wird, wird es auch erhalten.

Die Wetzelsdorfer bewahren ihre Häuser vor dem Abriss durch Weiterbauen. Schließlich fehlt immer irgendetwas, mal ein Vordach, mal eine Laube, ein andermal ein ganzer Raum.

Es sind Häuser zwischen Zufahrtsstraßen und Abstandsgrün, die hier interessieren. Oft gezeichnet von mehrfacher baulicher Modifikation.

Wetzelsdorf
Haus Ilwofgasse

Entstanden mehr aus einem inneren Pragmatismus, als aus einer äußeren Logik – nicht geplant oder entworfen. Das Äußere fügt sich dem Inneren und zeigt mit jedem Zubau eine neue Gestalt. Der Bestand wird adaptiert, erweitert und verformt. Die Erscheinung der Häuser verändert sich und lässt das Haus oft eigenwillig oder gar widersprüchlich aussehen. Die Häuser sind danach genauso unfertig wie davor.

Und so trifft man auf unterschiedliche Situationen – jedes Haus ist anders und wächst daher auch anders.

Fernab von Regelmäßigkeit und Wiederholung sind es Momente der Unregelmäßigkeit und Spontanität, welche überraschen und erfreuen.

Haus Don-Bosco-Weg
Süd-Ost-Siedler-Straße

Unbemerkte Symmetrien, weitergeführte Pattern, Strukturen, die sich im Außen zeigen, und ein Innen vermuten lassen.
Manche Häuser wachsen unscheinbar, andere wiederum spektakulär.
Manche wachsen aufgrund von Notwendigkeiten, andere wiederum ohne guten Grund.
Manche wachsen nach oben, manche seitlich, wiederum andere nach unten.

Haus Lissäckerstraße
Kärtner Straße
Haus Faunastraße
Haus Kärtner Straße
Haus Peter-Rosegger-Straße
Haus Peter-Rosegger-Straße
Haus Steinbergstraße
Haus Forstergasse
Haus Burenstraße
Haus Straßgangerstraße

Die unvollendete Form

Unter ArchitektInnen besteht die eigenwillige Auffassung, ein Haus besitze eine fertige Form und mit jedem Zubau wird diese Formvollendung zerstört. Nicht ohne Grund fotografieren sie ihre Häuser am liebsten direkt nach Baufertigstellung – man hat Angst vor Veränderung.

Was also, wenn man dem Haus gestattet, sich zu ändern und es nicht in seiner Formvollendung, sondern in seiner Verwandlung wertschätzt, es als permanent unvollständig, dadurch aber gleichzeitig als vollkommen ansieht?

Die Differenzierung zwischen dem Alten und dem Neuen wird für einen Augenblick außer Acht gelassen. Sobald ein Stein gesetzt ist, ist er Bestand.

Den Neubau gibt es nicht, nur das ewige Weiterbauen. Wir suchen ein Ergebnis, das definiert, aber durchsichtig ist.

Das Haus ist weder fertig, noch ist es unfertig. Es ist eben, was es gerade ist.

WetzelsdorferInnen haben‘s heute schwer. Wollen sie ihren Grund bebauen, gilt es Unmengen an Regeln und Bauvorschriften zu berücksichtigen: Abstandsregeln, Bebauungsvorgaben, OIB ... Darf ich das so machen, muss ich es bewilligen lassen oder zumindest anzeigen, baue ich offen, geschlossen oder gekoppelt?

Doch ab sofort gelten andere Regeln: Nicht mehr Dichtebestimmungen und Gebäudeabstandsregeln, sondern das Aneinander- und Ineinanderwachsen ist die neue Doktrin.

Situation Bestand
Ineinandergreifen und Durchdringen
Auflagern, Abstützen und Unterstellen

Die Grundgrenze gibt den Rahmen vor – innerhalb dieses Perimeters
spielt sich der Möglichkeitsraum ab. Das Haus muss sich dieser
unsichtbaren Linie fügen. Wir fliehen vor der Welt in unser Privates,
doch von hier fordern wir die Welt heraus. Diese Grundgrenzen haben sich
über die Jahre entwickelt und sind daher meist nicht orthogonal,
sondern verwinkelt oder gar spitz zusammenlaufend.

Wie vergrößert man sein Haus, wenn man bis zur Grundgrenze gehen kann? Repliziert das Haus die Form des Grundstücks? Geht man entlang dieser Linie, normal auf sie zu, oder gibt es einen Verlegenheitsabstand zur Baugrenze?

Eins ist aber klar: An Grenzen zu Nachbarn wird eine Brandwand gesetzt. Auch sie sollen dorthin wachsen können.

Hinnehmen und Weggeben
Aufklappen und Auswechseln

Eine hohe Dichte ist ein Kennzeichen von Städtischem: Wenn in der Fläche kein Platz mehr ist, geht man eben in die Höhe. Man überlagert, baut dazwischen, darauf und darunter.
Vor allem aber ist Dichte subjektiv, sie ist ein Gefühl. Solange man noch Platz hat, gibt es keine Dichte. Sie entsteht erst, wenn gar nichts mehr geht. Dichte zwingt einen, genau hinzusehen und mit ungewohnten Mitteln zu reagieren.

Dichte bedeutet nicht viel Wohnraum auf wenig Grundfläche oder wenig Zwischenraum zwischen den Teilen. Dichte bedeutet, dass die Teile so eng zusammenrücken, dass die Einheiten miteinander verschmelzen, ineinandergreifen.

Wie ein Palimpsest schreibt man immer wieder über die bestehende Struktur drüber, jedes Element ist dabei gleichwertig. Eine Stadt entsteht auf einem Einfamilienhaus-Grundstück.

Situation Neu
Überlagerung von leichten und schweren Elementen
Behaupten und Nachgeben
Verlängern und Weiterführen

Die Form steht im engen Austausch mit bestehenden Strukturen. Kann ich hier noch draufbauen oder muss ich zusätzlich etwas unterstellen? Kann ich dieses Dach verlängern, aufklappen oder gar wegschneiden? Jeder Zubau bedingt eine Neubewertung des Bestandes. Neue Möglichkeiten tun sich auf, formaler, aber genauso statischer Natur.

Tragwerkstechnische Berechnungen oder Vordimensionierungen gibt es nicht. Die Einfamilienhausbauten der WetzelsdorferInnen unterliegen dem Laissez-faire. Was funktioniert, funktioniert. Dort, wo es nicht mehr funktioniert, wird ertüchtigt. Und zwar nur dort.

Die Großform behält man höchstens irgendwo im Hinterkopf. Der Blick richtet sich immer direkt auf den kommenden Zubau und dessen ständig wiederkehrende Probleme: Wo dockt man an? Wo stützt man ab? Wo kann ich auflegen? Der konsequente Geist zerschellt an den Problemen eines Carport-Zubaus. Pragmatismus schlägt Systematik.

Eins nach dem Anderen

Häuser wachsen. Doch wachsen sie nicht im klassischen, kontinuierlichen Sinn. Ein Haus wächst nicht stetig, wie eine Blume. Auch ist im Bestand nicht die ganze Information enthalten, wie das Haus am Ende aussehen wird. Ein Haus wächst in Schüben und Phasen. Mal passiert ein größerer Eingriff, mal ein kleinerer.

Man hantelt sich von Situation zu Situation. Das Bestehende ist dabei gebaute Tatsache. Mit jedem Zubau wird der Bestand erweitert und es ergeben sich neue Situationen und neue Elemente, die dann wiederum aufgegriffen werden. Der Schritt davor wird zum Fakt des Nächsten, des Übernächsten und so weiter. Was gebaut ist, kann nicht widerrufen werden und ist nun Teil des Bestandes.

Dieses Hintereinander bestimmt die Hierarchie der Elemente und somit den
Charakter des Hauses. Die Formensprache wird größer. Je mehr man baut
desto mehr hat man zu bauen.

Mit jedem Zubau, mit jeder neuen Schicht, werden andere Teile überbaut und überdeckt. Die letzte Schicht ist immer die Sichtbarste, nicht nur weil sie am obersten liegt, sondern weil sie das Bestehende in einer Verbindung aufnimmt und damit neu bewertet.

Project by: Beatrice Raith

Supervisor Alex Lehnerer