SS 2018 Die Krise der 9000
Tino Glimmann, Jan Gollob.
In der Schweiz werden jedes Jahr über 9000 Einfamilienhäuser gebaut1. Ihre Architektur entspringt meist einer Bildwelt aus Katalogen und Broschüren von Bauträgern, Generalunternehmen und Fertighausfirmen, die diesen Markt dominieren – und die die Informationsgrundlage für 80% aller Einfamilienhausinteressenten bilden.
Architekten werden weit abgeschlagen in weniger als 20% der Fälle konsultiert – und auch nur bei rund einem Fünftel der Neubauten sind Architekten in die Planungs- und Bauprozesse überhaupt involviert. Fast fertige, kontextungebunden entstandene Einfamilienhaus-Massenentwürfe werden in beeindruckend hohem Tempo verkauft und gebaut – Tag für Tag.
Seit Jahrzehnten wird gegen diese Raumproduktion von Raumplanern, Sozialwissenschaftlern und Architekten opponiert: Das freistehende Haus im Grünen wird als landschaftszerstörende Manifestation einer Krise der Baukultur und der Wohnbedürfnisse betrachtet und abgelehnt – und trotzdem ist es in der Schweiz nach wie vor die beliebteste aller Wohnformen und die meistgebaute Gebäudetypologie.
Wir fragen uns: Ist die Krise wirklich eine Krise der Baukultur und „falscher Wohnbegierden“ der Schweizerinnen und Schweizer – oder ist sie die Krise einer Fachwelt, deren Mahnrufe ungehört verhallen und von uns Architekten, die anscheinend keinen Weg finden , wirklich an dieser Raumproduktion mitzuwirken?
Als angehende Architekten wollen wir diese Räume mitgestalten. Anstatt aber einen „vorbildhaften“ Einzelvorschlag zu liefern, der im Rausch unzähliger Typenhäuser untergehen würde, wollen wir uns damit beschäftigen, wie wir einem solchen Umfeld überhaupt erst handlungsfähig werden können, um es dann mitgestalten zu können.
Statt einer Ablehnung des Einfamilienhauses als Massenprodukt, der Geschwindigkeit und Kontextlosigkeit mit der es entsteht und der bildhaften Oberflächlichkeit dieser Raumproduktion akzeptieren wir diese Bedingungen und erheben sie zur Prämisse unserer freien Masterarbeit. Wie können wir uns in so einem Arbeitsumfeld zurechtfinden? Welche Ästhetik verschafft uns einen Zugang?
Auf der Suche nach Antworten machen wir die „Krise der 9000 Einfamilienhäuser“ performativ zu unserer „eigenen Krise“: Ohne Bauplatz, vorangestelltes Konzept und genügend Zeit entwerfen wir in drei Phasen jeden Tag ein Einfamilienhaus.
Die marktübliche Konstruktionsweise und das Raumprogramm bleiben dabei immer gleich, die Entwurfsmethoden, um den täglichen Hausentwurf zu stemmen, verändern sich: In der ersten Phase entsteht jeder Entwurf über eine festgelegte Reihe von Werkzeugen. In der zweiten Phase ist eine wiederkehrende räumliche Strategie Grundlage für jedes Haus.
Und in der dritten Phase zwingen wir uns, die drei Kernmotive der Eigenheiminteressenten, die „falschen Wohnbegierden“, jeden Tag als Grundlage zu verwenden. So wollen wir unsere Entwurfswerkzeuge, -strategien und unsere skeptische Haltung gegenüber dem Einfamilienhaus einem Stresstest unterziehen.
Project by: Tino Glimmann, Jan Gollob
Studio Alex Lehnerer, ETH