SS 2020 Die Eroberung der Gleise
Viviane Zibung, Markus Krieger.
Kristallisation
Die Metapher der Kristallisation ist dieser Arbeit ein erster Schlüssel; das « sich Herauskristallisieren» eine Annäherung an den Prozess, der unser Tun geleitet hat. Am Anfang steht ein Partikel von beinahe vernachlässigbarer Grösse. Es ist unscheinbar und mikroskopisch, doch seine Prägungen sind spezifisch: Es hat eine Form, Ecken und Kanten, ist ein Gefüge aus Substanzen. Die Oberflächen sind rau. Es hat Fehler und ist dennoch das perfekte Objekt, der perfekte Ausgangspunkt.
Denn trotz seiner verschwindend kleinen Grösse ist seine Existenz nicht unbegründet: Die Substanzen verraten uns Herkunft sowie Formungsprozesse und sind ein Hinweis auf das grössere Ganze, von dem das Partikel einst Teil war. Es besitzt also seine eigene Geschichte, ist jetzt aber nur noch ein Punkt im Raum, losgelöst von dem System an Zusammenhängen, in das es eingebunden war. Es ist in einem Zustand der Freiheit, in der Schwebe zwischen Neuanfang und ewiger Vergessenheit.
Mit Glück wird das Partikel zum Kern der Kristallisation. Es findet sich eine Kante oder eine Fläche, auf der Material haften bleibt. Schritt für Schritt bildet sich eine neue Struktur. Das « sich Herauskristallisieren » ist ein unaufhörlicher Prozess und gehorcht eigenen Gesetzen. Die Struktur wird grösser, die Gebilde autonomer und das Beziehungsnetz, das zwischen ihnen entsteht, immer komplexer. Die wachsenden Konstruktionen sind mal einfach, mal vielschichtig, mal undurchdringlich. Unvermeidlich verweisen sie zurück zum ursprünglichen Partikel, mal nachvollziehbar, mal nicht. Die Schönheit ergibt sich aus dem Zusammenspiel neuer Kompositionen. Das erwachsene Gebilde ordnet das Partikel ein in ein neues Ganzes. Seine Flächen spiegeln dessen Geist, die Geschichte und die Poesie der Kristallisation selbst.
Um uns ein letztes Mal der Metapher der Kristallisation zu bedienen, so war das Haus in Uznach der Kern, an dem etwas hängen blieb, um der Vergessenheit zu entkommen. Durch den Prozess des « sich Herauskristallisierens » entsteht aus einem Punkt im Raum eine ganze Welt. Doch die Metapher alleine stösst bald an ihre Grenzen, denn sie vermag nicht die gesamte Komplexität der zuvor nur skizzierten Realität erfassen. Ebenso verschleiert sie die Widersprüchlichkeiten eines entwerferischen Prozesses, der eben nicht natürlich, sondern zutiefst von subjektiven Empfindsamkeiten und Konflikten geprägt ist und in einer ebenso komplexen Welt vielschichtiger Abhängigkeiten stattfindet.
Die Metapher ist lediglich eine Lesehilfe, eine Rekonstruktion unserer Arbeit. Ähnlich wie die Metapher an Grenzen stösst, muss auch Text als ein Untersuchungsinstrument für die Architektur an Grenzen stossen. So ist das Schreiben ein mächtiges Instrument, um empirische Tatsachen festzuhalten, Argumentationsketten zu konstruieren, Reglemente zu definieren oder auch um poetische Konzepte überhaupt erst greifbar zu machen. Doch der architektonische Diskurs transzendiert die Ebene des Texts: Konzepte und deren Essenzen werden in Bildern, Collagen, Plänen oder letztendlich in der räumlichen Wahrnehmung selbst ausgedrückt.
Ebenso besteht im Umkehrschluss die Unmöglichkeit, solche Konzepte zu finden, ohne sie in diesen Medien gedacht zu haben. Dieses Projekt kann demnach als eine erweiterte Recherche verstanden werden, die sich den Mitteln des architektonischen Entwurfs als Untersuchungsinstrument bedient.
Gleichzeitig ist es die Verdichtung zu einer Bilderwolke um einen Punkt, zu einer greifbaren Vision und die kontinuierliche Suche nach einem alternativen Projekt; einer experimentellen Architektur, die offen bleibt und als Werk nicht abschliessbar ist. Letztlich, insbesondere im Hinblick auf die zentrale Thematik dieser Arbeit, ist sie auch ein Versuch der Entschleunigung; gedacht als ein Markstein des Zweifels und als Anstoss eines neuen Denkraums, der den glatten, rationalisierten Diskurs um bahnbegleitende Territorialbauten im kleinsten und den Diskurs um die Beschleunigung im allgemeinsten, um entworfene, surreale, historische und poetisch ästhetisierende Dornen anreichert.
Ohne die ganze Arbeit im Detail beschreiben zu wollen, sollen hier doch einige der Tendenzen festgehalten sein, die insbesondere die formalen und architektonischen Dimensionen des Projekts betreffen. Die Arbeit besitzt keinen festen Massstab. Ihre Form lässt zu, dass wir vom grössten und abstraktesten Massstab in den kleinsten und konkretesten springen können. Wir adressieren die Gleise als Ganzes, als systemisches Netzwerk, als Idee und als physische Konstruktion.
Die Arbeit ist eine Aneignung der Gleise durch architektonische Mittel. Kompositionen im Massstab der Gleise kreieren neue Hybride – sind eine Bearbeitung der Atmosphäre eines Territoriums. Die Architekturen selbst sind wiederum Kompositionen, entstanden aus den Spannungen ihrer Umgebung und aus sich selbst, manchmal Punkte in der Landschaft, manchmal verdichtet zu grosszügiger Öffentlichkeit. Die Komposition ist das Mittel der Aneignung, durch sie reagiert die Architektur auf die Macht der unendlichen Linie.
Die Arbeit sucht den architekturgeschichtlichen Dialog. Die Bilder der Geschichte, ihre Ideale und Konzepte sind transformiert durch uns, das Haus in Uznach und die Bahn. Manchmal sind die Vorbilder nah und direkt angesprochen, andermal nur ein Schatten ihrer selbst.
Die Arbeit ist ein Plädoyer für das surreale und unproduktive vor dem Hintergrund der höchsten Produktivität unserer öffentlichen Räume und Infrastrukturen. Es ist ein Plädoyer für eine Leere und Stille im Zeitalter der Beschleunigung und für das irrationale wie widersprüchliche Unterbewusstsein der Architektur.
Schliesslich strebt die Arbeit eine gewisse Autonomie an, eine Autonomie im Sinne einer Freiheit. Um es mit Lucius Burkhardts Worten zu sagen, zu dessen Werk wir uns im Laufe dieses Projekts zusehends verbunden fühlten: Wir wollen «nicht verwaltet werden von der Unbeweglichkeit derer, die alles, was noch nicht realisiert ist, als Utopie abweisen.»
Im definitiven Programmtext für diese Arbeit setzten wir uns folgende Aufgabe: «Ziel ist es, eine Diplomarbeit zu vervollständigen, aus der Bilder, Texte und Konzepte entstehen, die fest- halten, dass die anhaltende urbane Transformation – insbesondere im Kontext der Bahn – unseren Blick auf die Umwelt verändert hat. Die Bilder und Pläne sollen ein Spiegel werden für eine neue Selbstwahrnehmung des Architekt*innenberufs in einer Welt, deren Gestaltung uns zunehmend zu entgleiten scheint. Der Entwurf ist daher als ein Kraftakt der Wiederaneignung und gleichzeitig als ein Zeitdokument gedacht, das uns etwas zurückgibt, das [ ... ] verloren gegangen zu sein scheint.» Das vorliegende Buch stellt den Versuch dar, dieses Zitat einzulösen. Es ist der Versuch, die Gleise für das Haus in Uznach zu erobern.
Burckhardt, Frisch und Kutter, 1955: S.18
Krieger, Markus, Zibung, Viviane. Nutzfreie Architektur. 2019
Burkhardt, Lucius, Frisch, Max und Kutter, Markus. Achtung:
Die Schweiz. 1955. In: Burkhardt, Lucius, Frisch, Max und Kutter, Markus. Achtung: die Schriften. Zürich Triest Verlag, 2016
Project by: Viviane Zibung, Markus Krieger
Studio Alex Lehnerer, ETH