SS 2022 Der Palast der Vergesellschaftung
Anna Sachsenhofer.

Das Recht auf Stadt

«Es ist das Recht, die Stadt nach unseren eigenen Wünschen zu verändern und neu zu erfinden. Darüber hinaus ist es ein kollektives, anstelle eines individuellen Rechts, da das Neuerfinden der Stadt, unvermeidlich von der Ausübung einer kollektiven Macht über die Urbanisierungsprozesse, abhängt.» David Harvey


In der heutigen urbanisierten Welt, welche überwiegend von kapitalorientierten Interessen dominiert wird, sind Städte zu einem wichtigen Gestaltungsfaktor der Profitmaximierung geworden. Sowohl der öffentliche als auch der private Raum unterliegt jeweils Eigentumsverhältnissen, die auch dessen Gebrauchswert bestimmen. Folglich beschränkt sich die Mitgestaltung des städtischen Raums immer stärker auf die besitzende Klasse, wodurch die individuelle Freiheit oft auf Kosten des kollektiven Bedarfs geht. Eine weitere Konsequenz ist die Verdrängung von Bewohner*innen aus dem alltäglichen Geschehen durch konsumorientierte Zentren. Dementsprechend wird die Teilhabe an einer Gemeinschaft erschwert und führt zur Vereinzelung.

Mit Blick auf die russische Avantgarde wurde der Architektur eine in sich widersprüchliche Aufgabe zuteil. Zwischen den Wunschvorstellungen einer gesellschaftlichen als auch architektonischen Zukunft und den Gegebenheiten der damaligen Gegenwart, entstanden mehrere Architekturkollektive, welche sich zum Ziel setzten, innerhalb dieser dynamischen Verhältnisse zu entwerfen und etwas Neues entstehen zu lassen.

In den frühen 1920er Jahren verstanden sich die Rationalisten wie die Konstruktivisten als eine individuelle Autor*innenschaft, die sich für kollektive Werte einsetzten. Aus den Beobachtungen der Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung des Menschen, leiteten die Rationalisten auf naturwissenschaftlicher Basis ihre Architektur ab. Dabei grenzten sie sich von der rein zweckorientierten, als auch soziologischen Herleitung der Konstruktivisten ab. Diese nahmen die sozialistische Lebensweise als Grundlage, um die Abläufe innerhalb eines Gebäudes mit funktionalen Methoden architektonisch in einen Entwurf abzuleiten und lehnten Kunst als reine Ästhetik ab. Beide Kollektive hatten konträre Herangehensweisen, schufen dadurch einen regen Diskurs und ermöglichten eine Vielfalt an Entwürfen und Projekten, welche heute noch ihre Berechtigung haben.










Die entstandenen Gebäudetypologien aus den sozialistischen Bewegungen Europas um 1900, wie etwa der Kulturpalast, der Palast der Arbeiter oder das Volkshaus, wurden neben ihrer politischen Agenda, zum Schaffen von Räumen für Gemeinschaft und den Diskurs zwischen verschiedenen Klassen eingesetzt. So verwob sich Kultur mit dem Bild einer politischen Gesellschaft, wodurch eine Institutionalisierung linker Gesinnungen stattfinden konnte. Diese öffentlichen Gebäude bestanden aus Kinosälen, Theater, Restaurants, Bibliotheken, Versammlungsräumen, Schwimmbereichen und teilweise Parteizentralen (meist der sozialistischen Arbeiterpartei).

Durch die Gegenüberstellung der architektonischen Entwicklungen um 1900 mit den heutigen städtischen Tendenzen entwickelten sich folgende Fragen bezüglich dieser Arbeit: Welche Impulse aus der Zeit der russischen Avantgarde können der Entwicklung für ein zukunftsorientiertes Projekt der Gegenwart förderlich sein? Inwieweit verlangt die urbane Gesellschaft heute wieder vermehrt nach öffentlichen Gebäuden, die ihren Fokus auf das Gemeinwohl und gesellschaftlichen Diskurs legen?

Dieses Projekt versteht sich als Ausdruck der Sehnsucht nach Vergesellschaftung. Das Individuum im Kollektiv soll als progressiver Motor unserer Stadt gelten. Die neue Auslegung des Kulturpalasts wird als Basis für den Entwurf herangezogen und in die heutige Gesellschaft platziert. Der geschaffene repräsentative Raum in der Stadt kann der neoliberalen, kapitalorientierten Verdrängung entgegentreten. Die Institutionalisierung von Vergesellschaftung will soziale Intimität, mit monumentaler Kraft, durch Architektur in Verbindung setzen. Somit kann die Sicht der Gesellschaft durch die Architektur neu orientiert werden.

Der Palast der Vergesellschaftung

Beginnend mit der Definition der sozial interaktiven Bereiche des Palastes und deren Verankerung in Graz, zwischen der Pappelallee, dem Sturzplatz und der Mur, entstand folgende Komposition: der Halbkreis als Tribüne für Spiel und Diskurs, das Rechteck als Halle der großen Versammlung und Unterhaltung, der Turm als Orientierungspunkt und Wissenszugang, die Wand als Schutz des Schaffens und die Abtreppung als Vertiefung. Der Schwerpunkt des Entwurfes liegt auf der repräsentablen Gestaltung des Palasts. Deshalb wurde im Modell aus der Perspektive des/r Betrachters*in entworfen. Aufgrund wechselnder Betrachtung von der Komposition im Plan und der Perspektive im Modell entsteht schrittweise die Architektur des Palasts. Bauliche Elemente werden anhand der zugeordneten Eigenschaften definiert und wiederholt eingesetzt. Die Interaktion zwischen Stahl- und Massivbau hängt stark mit einer urbanen Durchwanderung zusammen. Das Ergebnis ist ein flimmerndes, monumentales Gesamtbild von architektonisch gesetzter Ideologie.


Kasimir Malewitsch, Suprematismus N°56 1915, Öl auf Leinwand 79x71cm Russisches Museum
Dachdraufsicht
Grundriss UG
Grundriss EG
Grundriss 3.OG
Schnitte



Der kleine Turm - Das Gelenk

Wie ein Gelenk leitet der kleine Turm die Fassade des Sturzplatzes in den Skelettbau über. Anders als der Turm übernimmt er die massiven Wände und setzt sich vom Boden ab. Dadurch wird ein kleiner Einblick in das Geschehen des Innenhofes ermöglicht.

Die Entscheidung für ein Aufsetzen des Turms durch eine Stützenordnung ermöglicht einen Wechsel der klaren Fassadenstruktur der Wand entlang der Sturzgasse hin zum Skelettbau im Innenhof.

Die Wand - Das Schaffen

Die sich wiederholenden Stützen rangen nach oben. Es scheint, als ob die Wand die Höhen des Sturzplatzes zu erreichen versucht. Die Abwechslung zwischen Wand und Stütze lässt einen Rhythmus mit beschützendem Charakter entstehen. Das innere Geschehen wird von dem Außen abgeschirmt und verteilt sich auf die unterschiedlichen Geschosse.

Ob in dem lichtdurchfluteten Dachgeschoß oder in den von massiven Wänden umgebenen Clubräumen, diese Räume dienen dem bewahrten Probieren und Produzieren.

Das Zusammentreffen der Wand mit dem angrenzenden Turm und die daraus entstehende Dachform.

Die Abtreppung - Die Vertiefung

Mit einer leichten Drehbewegung spannt sich der Mittelbau in Richtung Podest auf. Die vertikale Abtreppung
des Daches verjüngt nach oben und lässt sich von den dahinterliegenden Lisenen auffangen. Durch eine Gegenüberstellung der Lisenen der Abtreppung und der Stützen des Turms entsteht die Eingangssituation. Die durch die Versetzung des Daches entstandenen Innenräume dienen als Orte der Vertiefung von Gemeinschaft.

Ein Aufbrechen des kastenförmigen Erstversuchs lässt eine neue Überleitung zwischen Innenhof und Hauptplatz zu.

Der Turm - Die Setzung

Selbstbewusst steht der Turm da, er dient als Orientierungspunkt in der Stadt. Seine zarten Stützen tragen den aufgesetzten Gürtel, durch den sich die Stahlkonstruktion hindurchsticht und in einem Plateau endet. Er verortet den Zugang zur Wissensvertiefung und leitet in den Mittelbau weiter. Von der einen Seite kaum zu übersehen, macht sich der Turm straßenseitig nur durch einen kleinen Vorsprung bemerkbar.

Die Unterteilung der Glasfassade des Turms trägt einen wichtigen Beitrag zur Proportionswahrnehmung bei. Daraus lässt sich die Höhe des Turmes ableiten.

Die Tribüne - Spiel und Diskurs

Die Tribüne lädt mit ihrer offenen Geste die Stadtbewohner*Innen zu Spiel und Diskurs ein. Als Kreissegment umrahmt sie den Platz hin zur Mur. Dahinter tritt der Palast mit seiner Veranstaltungshalle, der Abtreppung und dem Turm, erhaben auf dem Podest zum Vorschein. Bestehend aus den massiven Treppen, schließt die Tribüne mit ihrer leichten Stahlkonstruktion der Fachträger ab.

Die im Entwurf bereits entstandenen statischen Elemente werden bei der Tribüne neu interpretiert eingesetzt.

Die Halle - Die Unterhaltung

Monumentale Stützen kennzeichnen den repräsentativen Eingang der Veranstaltungshalle. Innen ermöglichen die imposanten Fachwerkträger einen freien Grundriss für das Stattfinden verschiedenster Großveranstaltungen. Die seitlich anschließenden Treppenhäuser definieren in ihren Abrundungen die Fassade und wirken in ihrer voluminösen Form fast schon skulptural. Die Lust auf Vergnügung und Unterhaltung hat hier ihren Ort.

Die großzügigen Säulen werden statisch in den Entwurf eingebettet.

Der Skelettbau - Das Ergänzen

Zu den Pappeln hin lösen sich die Stützen des Turms in ein filigranes Stahlskelett auf. Die dichte Anordnung ermöglicht eine Vielzahl an Arten des Ergänzens. Zwischen den geschlossenen Kernen, aus Treppen und Lagerräumen bestehend, spannen sich flexible Deckenelemente auf. Eine geborgene Benutzung ist durch die Lage im Innenhof gegeben.


«[...] Begreift man Commons als soziale Beziehungen, die in einem beständigen Prozess ausgehandelt werden und in denen unterschiedliche wie auch sich widerstreitende Gemeinschaften den Zugang, die Nutzung und Bedeutungen definieren, dann muss der Raum, der der Herstellung dieser neuen Beziehungen dient, notwendigerweise auch Teil eines andauernden Prozesses des Aushandelns von Macht, Hierarchie sowie In- und Exklusion sein. Entsprechend sind Räume des Gemeinschaffens als prekärer Prozess der Selbstorganisation auch Orte der Vielfältigkeit und Pluralität. [...]» Stefan Gruber

Project by: Anna Katharina Sachsenhofer

Supervisor Alex Lehnerer