WS 2025 Das Phantom einer Grenze
Emir Dostović.
Die „Entitätengrenze“ in Bosnien und Herzegowina stellt einen der zentralen Aspekte der politischen, administrativen und räumlichen Ordnung des Landes nach dem Krieg (1992-1995) dar. Sie wurde durch das Daytoner Friedensabkommen von 1995 festgelegt und teilt das Territorium Bosnien und Herzegowinas in zwei Entitäten: die Föderation Bosnien und Herzegowina und die Republika Srpska.
Im Grunde ist sie keine internationale Grenze, sondern eine administrative Trennlinie innerhalb eines einheitlichen Staates. Das Konzept der Linie zwischen den Entitäten stammt aus den kriegerischen Auseinandersetzungen und den Verhandlungsprozessen während und nach dem Krieg in Bosnien und Herzegowina (1992–1995). Das Daytoner Abkommen etablierte diese Linie unter Berücksichtigung der damaligen Frontlinien, mit einigen Korrekturen zur Schaffung einer territorialen Balance.
Zu Beginn war die Linie zwischen den Entitäten eher ein Symbol für die militärisch-politische Teilung, während sich ihre Rolle mit der Zeit auf administrative, rechtliche und infrastrukturelle Bereiche der Gesellschaft ausweitete. Jede Entität verfügt über ihre eigene Regierung, Gesetzgebung und administrativen Strukturen, was häufig zu Unstimmigkeiten in der Planung und Entwicklung führt, einschließlich architektonischer und städtebaulicher Aspekte. Diese Dichotomie in den Regulierungen erschwert zusätzlich die Umsetzung von Infrastrukturprojekten und eine einheitliche Raumplanung. Im Kontext von Architektur und Urbanismus hat die „Entitätengrenze“ einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung von Siedlungen, insbesondere in „Grenzgebieten“, in denen Raumplanungen oft nicht aufeinander abgestimmt sind. Unterschiede in städtebaulichen Lösungen lassen sich bspw. in Sarajevo beobachten, wo Stadtteile unter verschiedenen Verwaltungen unterschiedliche Ansätze in der städtebaulichen Entwicklung verfolgen.
Im urbanen Bereich der Stadt passt sich die Linie überwiegend der bestehenden Struktur an, wobei sie meist dem Verlauf bereits vorhandener Straßen folgt. An bestimmten Stellen ist ihre Präsenz auch spürbar...
Auf der anderen Seite, im ländlichen Teil der Stadt, passt sich die Linie nicht der bestehenden Struktur an, sondern verläuft willkürlich durch Siedlungen, Häuser, Gärten und Straßen...
Obwohl es sich nur um eine administrative Grenze handelt, hinterlässt sie weiterhin ihre Spuren und wird zunehmend materiell.
Dieses Phänomen führt zu Paradoxien und Anomalien, wie am dargestellten Platz ersichtlich, wo die beiden Hälften des Platzes, jede für sich, entwickelt, umgestaltet und verändert werden können, ohne einen gemeinsamen Zusammenhang.
Was wäre, wenn die Gebiete entlang der gesamten Linie auf diese Weise verändert werden würden?
Was würde tatsächlich passieren? Ist dieses Phänomen zwangsläufig ein Ungeheuer, das paradoxe und absurde Situationen hervorruft und etwas Unsichtbares materialisiert? Kann ein solcher Ansatz tatsächlich zur Schaffung von Grenzen im Sinne von Barrieren führen? Wie würden unsere Siedlungen, unsere Häuser, Gärten und Straßen dann aussehen?
Was würde in einer Siedlung passieren, in der die Linie nicht an die bestehende Struktur angepasst ist, sondern rücksichtslos alles auf ihrem Weg durchschneidet, unter der Annahme, dass beide Seiten strikt unabhängig voneinander existieren, funktionieren und agieren? Wenn ich genauer darüber nachdenke, werden sogar die Häuser zu Opfern dieser Linie... Dennoch sollte ein solches Haus, obwohl es von der Linie betroffen ist, seine Qualität bewahren. Aber wie?
Grenzen, ob sichtbar oder unsichtbar, haben die Macht, Raum und Gesellschaft zu gestalten. Was zunächst nur eine Linie auf dem Papier ist, kann mit der Zeit zu einer realen Barriere werden – ein Weg, der trennt, eine Mauer, die spaltet oder eine Wahrnehmungsdifferenz, die sich vertieft.
Man sagt, der Stift sei mächtiger als das Schwert... Doch die Kraft von Linien liegt nicht nur in ihrer Fähigkeit zu trennen – sie können auch verbinden. Alles hängt von der Absicht derer ab, die sie ziehen. Wenn es stimmt, dass Gedanken die Realität formen, dann liegt die Verantwortung der Architektur und des Städtebaus nicht nur in der Gestaltung des Raums, sondern auch in der Gestaltung von Beziehungen – denn die Linien, die wir zeichnen, sind nicht nur Striche auf dem Papier, sondern Spuren im Leben der Menschen.
Project by: Emir Dostović
Supervisor Alex Lehnerer